Nie wieder ist jetzt – Queer-feministisches Gedenken anlässlich des Frauentags

Am 2. März 2024 folgten etwa 30 Personen der Einladung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Worms und nahmen im Rahmen des internationalen Frauentags an einem queer-feministischen Stadtspaziergang durch die Wormser Innenstadt teil. Die Gruppe wurde von Heide Denig, grüne Ortsbeirätin in Herrnsheim und erfahrene Gästeführerin, Julian Harm, Beisitzer im Vorstand der Wormser Grünen und Aktivist gegen Antiziganismus sowie Anna
Biegler, der Vorsitzenden der Wormser Grünen, geleitet.

Unter dem diesjährigen Motto „Nie wieder ist jetzt“ gedachten die Teilnehmenden an verschiedenen Stationen in der Wormser Innenstadt Mitbürger*innen, die unter der Ideologie des Nationalsozialismus zum Schweigen gebracht, diskriminiert und verfolgt wurden. Anna Biegler betonte in ihrer Begrüßung: „Heute setzen wir gemeinsam ein Zeichen für ein gleichberechtigtes und offenes Miteinander in Worms. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen.“

Die erste Station führte die Gruppe in die Wilhelm-Leuschner-Straße, wo Heide Denig eindrucksvoll das Leben von Wilhelmine Marie Michel schilderte. Die Wormser Jüdin Wilhelmine Marie Michel war eine Wegbereiterin der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie setzte sich für das Frauenwahlrecht und für Bildung und Aufstiegschancen von Frauen ein. Dies kann man auch an dem Bildungsweg ihrer Tochter Hedwig erkennen, deren erfolgreiches Leben durch den Nationalsozialismus ein jähes Ende nahm.

Am Otto-Wels-Platz herrschte absolute Stille, als Julian Harm den bewegenden Zeitzeugenbericht der Wormserin Karoline Schott, geb. Steinbach, vortrug. Karoline Schott geb. Steinbach wurde im Nationalsozialismus wegen ihrer Familienzugehörigkeit einer alten Wormser Sinti Familie unter der antiziganistischen Fremdbezeichnung des „Zigeuners“ ausgegrenzt und verfolgt. Sie wurde deshalb im Sommer 1940 zusammen mit ihrer Familie und weiteren Familien von Worms erst nach Frankfurt in das Internierungslager Dieselstraße/ Kruppstraße deportiert, im Jahr 1943 in das „Zigeunerlager“ im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort wurde ihr Ehemann, ihr Baby und ihr Neugeborenes von den deutschen SS-Mannschaften ermordet. Karoline Schott wurde von Auschwitz mehrfach weiterdeportiert und in einem Außenlager von Buchenwald befreit. Sie überlebt als einer von wenigen Sinti in Deutschland. Karoline Schott gründet in schwierigen Verhältnissen einer antiziganistischen, deutschen Gesellschaft eine neue Existenz. Sie starb mit fast 95 Jahren 2017 in Worms.

Auf dem Platz der Partnerschaft machte Heide Denig die Gruppe auf Reliefs aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aufmerksam, auf denen man das Frauenbild dieser Zeit ablesen kann. Die Frau wurde auf einen Sockel gestellt und als Mutter verehrt, hatte sonst wenig Rechte.

Die letzte Biografie während des Stadtrundgangs drehte sich um den Wormser Mitbewohner Adolf Tschirner. Dieser wurde im Nationalsozialismus als Homosexueller ausgegrenzt und verfolgt. Tschirner wurde in Calbe a. d. Saale geborene kam 1913 aus Berlin-Lichtenberg nach Worms. Hier arbeitete er als freier Journalist und Heimatforscher. Im Ersten Weltkrieg war er Frontsoldat und wurde mit militärischen Abzeichen ausgezeichnet. Ausgelöst durch einen von ihm für die Wormser satirische Zeitschrift „Die Gaslatern“ verfassten Artikel über „Schwule Lyrik“ wurde 1931 eine polizeiliche Untersuchung gegen ihn durchgeführt. Sie blieb mangels Nachweises einer strafbaren Handlung folgenlos. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 versuchten seine persönlichen Gegner aus der Stadtgesellschaft Tschirners homophile Neigung zu instrumentalisieren. Wegen indirekten
Anfeindungen und um weiteren Nachstellungen zu entgehen, zog Tschirner im Jahr 1934 seinen Wohnsitz in der Römerstraße 44 in Worms nach Neustadt an der Weinstraße. Aber auch dort gingen die Verfolgungen weiter. Adolf Tschirner wurde trotz wiederholter Feststellung der Polizei, dass ihm keine strafrechtlichen Vergehen vorzuwerfen seien, mehrfach in Untersuchungshaft genommen. Eine weitere Verurteilung führte zu seiner Überstellung nach Nürnberg in Vorbeugehaft und zur Einweisung in das KZ Sachsenhausen, wo er 1940 verstarb.

Julian Harm appellierte nach seinem Vortrag: „Unsere Gesellschaft war und ist vielfältig. Diese Vielfalt zu begreifen, und auch zu fördern, ist Grundstein einer starken Demokratie. Diese Vielfalt ist gerade dann aufzuzeigen, wenn sie früher und heute wieder versucht wird mit Falschmeldungen und Ängsten zum Verstummen zu bringen. Es ist für mich deshalb elementar, dass wir uns gerade in diesen Zeiten entschieden gegen alle Einflüsse und Gruppierungen von rechts entgegentreten. Gerade dann, wenn in Deutschland fast 80 Jahre nach dem Holocaust, wieder Deportationspläne aus menschenfeindlichen und
rassistischen Gründen geschmiedet werden. Ein „Auschwitz darf nie wieder passieren“ ist keine bloße Floskel, sondern ein Ziel in dem wir alle als Einzelne in unseren alltäglichen Handlungen aktiv entscheiden müssen. Gegen Hass und Hetze und für ein Gemeinsam sind wir stark.“

Zum Ausklang des Spaziergangs wurde der Marktplatz symbolisch durch die Teilnehmenden in den „Karoline-Steinbach-Platz“ umbenannt. „Wir möchten, dass Frauen im Wormser Stadtbild sichtbarer werden. Noch immer sind Plätze und Straßen in Worms überwiegend nach Männern benannt. Daher plädieren wir dafür, alle neuen Plätze und Straßen in Worms nach Frauen zu benennen. Die geplanten Quartiere, wie das Licht-Luftbad-Quartier, das Gerberquartier und die neuen Wohngebiete in Rheindürkheim und Neuhausen bieten eine hervorragende Gelegenheit, diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken.“, so Anna Biegler abschließend.     

Foto: von links nach rechts: Leonhard Schmitt, Lukas Böhm, Heide Denig, Katharina Schmitt, Anna Biegler, Benjamin Weisbach, Heike Jores, Julian Harm

Artikel kommentieren

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.